Storytelling: Geschichten sind das Dynamit unserer Gesellschaft
3Storys wirken! Kein Zweifel. Darum wird Storytelling fast überall durchgekaut: Auf Blogs, in Contentmarketing und – ja – in der politischen Diskussion. Doch ist das gut? Es wird Zeit die Macht der Geschichte zu brechen!
Ein positives Märchen endet mit „und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende“. Davor lief eine klassische Erzählung: eine Identifikationsfigur, erzwungener Aufbruch, eventuell ein Mentor, eine Krise, ein Ende. Die „Moral von der Geschicht“ nehmen wir mit – es ist das, was wir lernen.
Diese Erkenntnis, die uns ein Geschichte vermitteln soll, das ist das, was den Erzähler, den Absender interessiert. Im Content Marketing ist es das „around the product, not about the product“, im Journalismus heißt es „keine Nachricht ohne Story“. Und so weiter.
Erfolgsstory Story
So weit, so gut – so abgenutzt. Ich habe manchmal das Gefühl, dass wir aus fast allem eine Story drehen, schon ganz schablonenhaft. Aber Geschichtenerzählen ist eben eine Erfolgsstory. Vom Barden bis zum PR-ler macht es jeder, der Effekt ist mittlerweile erforscht:
„To do this, we tested if narratives shot on video, rather than face-to-face interactions, would cause the brain to make oxytocin. By taking blood draws before and after the narrative, we found that character-driven stories do consistently cause oxytocin synthesis.“
Es scheint zu funktionieren, wir wollen, dass es funktioniert, wie gehen mit Absicht auf die emotionale Ebene.
Vergesst Fakten, ich will Geschichten
Hier bekomme ich langsam ein Problem: Denn Geschichten funktionieren völlig ohne Fakten. Kein Problem, solange wir uns im Kontext der Fiktion aufhalten. Star Wars ist erfunden (und lasst mich gar nicht über das Storytelling von „The Last Jedi“ anfangen!) – uns allen ist das klar. Ein Roman? Erfunden! Werbung? Wir wissen, dass die Firmen uns was verkaufen wollen.
Wir wissen, wenn der Film unterbrochen wird, dann kommt Werbung. Wir wissen, wenn wir die Gebrüder Grimm aufschlagen, kommen Märchen und im Kino eine spannende Geschichte.
Fakten gab es dagegen in den Nachrichten in der Zeitung. Klar, oder?
In den Sozialen Medien fehlt dieser Kontext häufig, hier vermischt sich alles. Und es fehlt auch der Flaschenhals, der die Masse zurückhält. Jede Geschichte kann sich verbreiten, wenn sie nur geschickt genug emotionalisiert. Ja, sie verbreitet sich sogar schnell, als es eine nüchterne Nachricht täte.
Stories können Menschen zu manipulieren
Stories wirken also, sie wirken auch schnell. Sie sind resistenter als manch Krankenhaus-Keim, und mit Fakten sind Geschichten kaum mehr auszutreiben. Sie motivieren erwiesenermaßen zu Handlungen:
„Further, the amount of oxytocin released by the brain predicted how much people were willing to help others; […]“
Kurz: Sie eignen sich optimal für politische Agitation beim Wahlvolk.
Auch hier fehlt der Kontext. Eine Geschichte in der Aufmachung einer Nachricht wird von vielen eben als Nachricht wahrgenommen. So sehr sich Journalisten mit „Essays“ und „Reportagen“, „Features“ und „Kommentaren“ als Stilformen auseinandersetzen, so wenig können viele User das unterscheiden oder Quellen bewerten.
Jetzt sind wir also bei Fakenews und den davon profitierenden Parteien. Eine komplette Geschichte mit Opfern, Gutmenschen als Bösewichten, dem drohenden Konflikt und der Versprechung diesen Konflikt zu lösen. Danach wird alles gut. Rosa Brille auf germanisch blauen Augen.
Das Problem an den Geschichten: Sie hören auf. Die reale Welt hingegen nicht. Und so sehen wir die Macht von Stories, die sich nach dem „happily ever after“ leise verabschieden: die Amerikaner müssen nun mit Trump leben (und es gefällt vielen), die Briten mit dem Brexit. Happy End ist das nur noch für eine kleine Gruppe.
Thank you, Storytelling! For nothing!
Denn was Geschichten selten können (oder wozu sie selten genutzt werden): Ein funktionierendes, komplexes System zu beschreiben. Sofort werden wir kleine Geschichten über das vermeintliche Versagen der Justiz finden. Opfer, Bösewicht, Konflikt, Tragödie, Mitleid, Zorn. Das ist leicht. Aber wie erzählen wir, warum das im gesamten Gesellschaftskontext vielleicht gar nicht so schlecht ist, wie es scheint?
Gegen die schnelle Emotion der Story hat das komplexe, wissenschaftliche Denken keine Chance. Die Akte X-Erzählung setzt sich längst fort in Flat-Earthers, Chemtrailers und Reichsbürgern. Stories sind wie Dynamit. Sie haben soziale Sprengkraft, aber das Aufbauen ist wesentlich komplizierter. (Es ist eben mehr als ein Zusammenschnitt von Trainingssequenzen nötig, um ein Jedi oder ein Boxer zu werden.)
Mir graut mittlerweile vor der Omnipräsenz der Stories. Gleichzeitig werde ich sie im Job aber weiterhin propagieren – aber eben im Kontext.
Weniger Geschichten, mehr Programmieren
Ich wünschte mir, wir würden – vor allem die „snackable Stories“, also Bild Headline-Kombinationen, sorgfältiger und weniger einsetzen. Ich wünschte, wir kämen wieder zu einer komplexen Denkweise mit weniger Emotion, problemlösungsorientiert mit einem Hang zu langer Laufzeit.
Kurz: Ich wünschte mir, wir würden mehr programmieren und weniger Geschichten erzählen. Beim Programmieren lernt man Abhängigkeiten, Rollen, Auswirkungen kleiner Änderungen (Fehler) auf ein System.
Aber wie mach ich da jetzt eine Geschichte draus?
Guten Morgen Stephan
Wie recht Du hast heutzutage werden Lebensgeschichten als neue Verkauf Strategie verwendet.
und damit sehr überstrapaziert und damit auch unglaubwürdig.
Servus,
Ich habe mich bei einem Blog auch mal mit „Storytelling“ bei der Content Planung beschäftigt. Ein großes Thema, das viel Recherche und Kreativität braucht (viel Arbeitsaufwand). Wenn man es gut angeht, hat man im besten Fall einzigartigen Content, der die Leser mitreißen kann. Heute versuchen das auch viele Influencer über ihre Social-Media-Kanäle, ich finde es immer wichtig auch authentisch zu bleiben. Guter Beitrag, danke dafür.
Grüße Mauritz
Das mit Storytelling ist schon ein komisches psychologisches Phänomen. Leider seit es die Marketing Branche für sich entdeckt hat, wird es wirklich regelrecht missbraucht. Ich habe mal gelesen, dass unser Hirn wirklich hooked ist, wenn es um Geschichten geht. Daher auch Kliff hanger und andere Psychotricks bei Serien und Fernsehen…
Wenn wir das weiter spinnen, so ist ja die gesamte Entertainment-Branche auf Storytelling aufgebaut, auch die Geschichte/Historie und insgesamt eine gesamte Kultur/Gesellschaft. Nur, dass es jetzt auch noch in die Wirtschaft gedrückt werden muss, na ja, wenn es Geld macht – wen wundert es? :-)
Liebe Grüße,
Tara