30 Jahre Hitler-Tagebücher: Was alle heutigen Journalisten daraus lernen können…

Bild aus ZDF Doku "Jahrhundertfälschung: Hitlers Tagebücher"

…und warum wir heute im Internet die Fälschung aufdecken würden.

Am 25. April 2013 ist es 30 Jahre her, dass der “Stern”-Reporter Heidemann in einer Pressekonferenz in Hamburg die vermeintlichen Hitler-Tagebücher in die Kameras hielt. Was für ein Coup, was für ein Medien-Echo … was für ein Katastrophe. *

30 Jahre Hitler-Tagebücher, und man sollte meinen, die Verlage und Medienmacher hätten daraus die richtigen Schlüsse gezogen. Dass deren Redakteure nun wieder genauer recherchieren dürfen, sich nicht durch Druck und überschäumende Emotionen (und Geldgier) zu einer übertriebenen Geschichte verleiten lassen.

Kurz: Dass sie der journalistischen Anforderung gerecht werden dürfen.

Die gute Nachricht: Für einige ist das wirklich besser geworden. Die schlechte: Für viele nicht.

Der gedrängte Journalist

Kannst Du Dir folgende Szene vorstellen? Die Moderatorin eines investigativen TV-Magazins sagt: “Guten Tag, heute haben wir die Sendung um eine Viertelstunde gekürzt, da wir zu wenige skandalöse Themen gefunden haben.” – Unwahrscheinlich, nicht wahr?

Bild aus ZDF Doku "Jahrhundertfälschung: Hitlers Tagebücher"
Bild aus ZDF Doku „Jahrhundertfälschung: Hitlers Tagebücher“

Ob gedruckt oder gesendet, klassische Medien geben stets eine Größe vor, eine Seitenzahl, eine Sendezeit. Die muss gefüllt werden – und zwar so, dass sich die Ausgaben dafür lohnen. Journalistische Produkte müssen auf den Punkt kommen, starke Emotion erzeugen und so eine hohe Reichweite erzielen. Zugespitzt… nein, überspitzt.

Das ist keine journalistische Entscheidung mehr.

Es ist eine kaufmännische.

Der Fall “Leiharbeiter bei Amazon” ist ein aktuelles Beispiel für solch eine Überspitzung. Im Kern wohl wahr, wurde der Beitrag verschärft, bis er die nötige Emotion erzeugte. Sauber war das dann nicht mehr.

Das lässt sich heute leicht sagen. Die Frage ist nur: Hätten wir es denn unter Druck anders gemacht? Hätten wir dem Chefredakteur, dem CvD oder einem anderen Vorgesetzten die Stirn geboten? Hätten wir es verantwortet, dass die Geschichte durch Unaufgeregtheit weniger Zuschauer erreicht und im Zweifelsfall auch weniger Geld wert ist?

Wir Journalisten sind Mütter und Väter, haben finanzielle Verpflichtungen – kurz: wir sind Menschen und man kann Druck auf uns ausüben. Es verwundert kaum, wenn sich jetzt herausstellt, dass die “innere Pressefreiheit” stark abnimmt.

Der skandalisierte Leser

Auf der anderen Seite finden wir Konsumenten, die im Großen und Ganzen (aber eben nicht alle. Das ist die Chance daran!) weder nachfragen, noch differenzieren. Eine Geschichte muss über eine bestimmte Reizschwelle kommen, um sich zu verbreiten. Eine reißerische Headline gelesen – und schon auf „Teilen“ geklickt. Das ist alles.

Lieber Hyperventilation als Information.

Ein nichtjournalistisches Beispiel dazu: Auf Facebook kursierte am 9. April ein Bild von Peter Brabeck-Lethmate, dem Präsidenten von Nestlé. Darauf ein angebliches Zitat von ihm: „Zugang zu Wasser sollte kein öffentliches Recht sein.“ Es erhob sich der übliche Shitstorm auf Facebook. Übelste Drohungen … nur wenige kamen auf die Idee, einmal die Wahrheit des Zitats zu prüfen oder die Aussagen Brabecks in Zusammenhang zu stellen.

Hitlertagebücher?

Da würde heute ein Facebook-Foto mit kurzem Text reichen, schon wäre halb Deutschland von deren Existenz überzeugt – und ganz schnell hätte sich ein schöner Twitter-Hashtag gefunden.

Vorteil für selbstpublizierende Journalisten

Hier kommt die gute Seite: Wir Selbstpublizisten müssen uns weder dem Druck der Masse, noch dem Druck der Medienmaschine beugen. Kein Chefredakteur, kein CVD, kein Verleger im Nacken. Wir können uns Zeit nehmen, wenn wir wollen. Können Geschichten um der Geschichten Willen schreiben. Uns um Themen links und rechts der großen Quoten kümmern. Das Internet macht uns unabhängiger.

Wir können wieder Lust am guten Journalismus finden.

Wir müssen nicht auf der Welle der kreisenden Erregung mitreiten, wir können der Wellenbrecher sein, der – dann eben etwas später – mit der relativierenden, sauberen Geschichte daherkommt. Auch das erhält Aufmerksamkeit. Vielleicht nicht beim Massenpublikum, aber bei denen, die nach sauberen Geschichten lächzen. All diejenigen, die von den Massenmedien links liegen gelassen werden. Und die gibt es.

30 Jahre Hitlertagebücher?

Ich lehne mich aus dem Fenster und behaupte: Heute würden Journalisten (und Blogger und Crowdsourcer) aus dem Web den Skandal aufdecken.

Warum?

Weil viele von uns kritischer denken und schneller agieren können/dürfen. Denn die meisten großen Medienhäuser würden erst einmal den Hype mitreiten um den Traffic abzusahnen und nichts zu verpassen.

Derweil können wir schon kritisch nachhaken. Das ist unsere Chance. Das macht Onlinejournalismus auch als Selbstpublizisten zu echtem Qualitätsjournalismus.

* Wer die Geschichte von den Hitler-Tagebüchern nicht kennt, dem sei die ZDF-Doku „Jahrhundertfälschung: Hitlers Tagebücher“ ans Herz gelegt.

Linktipps: Tweets zitieren, Flattr, Plöchinger, Crowdsourcing, Web-Texte

Das ultimative Handbuch für Nachrichtenportale: So verlinkt man aus sozialen Netzwerken richtig

 

In der Woche nach dem ebenso sensationellen wie peinlichen Einknicken der SPD beim Leistungsschutzrecht („Wir wollen es zwar nicht, aber wir sagen mal nichts dagegen, und wenn #ProblemPeer dann Kalif anstelle der Kalifin ist, ändern wir es ab.“), hat dieser Beitrag von Tobias Gillen für mich eine ganz besondere Aktualität. Denn er beschäftigt sich damit, wie man Beiträge aus sozialen Netzen richtig verlinkt. Anlass war dieser Tweet von Tobias:

Der wurde danach von vielen „offiziellen Vertretern“ der deutschen Verlage genutzt, kopiert und verwurstet – allerdings ohne korrekt auf den Urheber des Tweets hinzuweisen.

Ja, Tweets  sind frei verfügbar, Ja der Twitterer freut sich, wenn seine Worte weiter verbreitet werden. Aber sie sind auch sein geistiges Eigentum und unterliegen dem Urheberrecht –  wie uns übrigens Medienrechtsanwalt Prof. Dr. Gero Himmelsbach schon am Dienstag auf LousyPennies erklären wird.

Aber Recht hin oder her: Ich halte es nur für fair, wenn die (festangestellten) Kollegen in den Redaktionen kreative Twitterer wie Tobias richtig zitieren und zumindest korrekt auf den Urheber verweisen. Denn wenn es schon keine LousyPennies gibt, dann wenigstens die Ehre. Nach dem Beitrag von Tobias  können sie nun nicht mehr behaupten, nicht gewusst zu haben, was sie tun… (Ob die SPD es gewusst hat?)

Flattr

Flattr richtet sich neu aus

Ach ja, die vielen Ideen, wie man seine LousyPennies im Netz verdienen kann – Flattr ist eine davon. Viele haben den Mikrospendendienst schon für gescheitert erklärt, da er nur in Nischen genutzt wurde und kaum auf größeren Seiten. Doch die Schweden geben nicht auf und haben Flattr neu ausgerichtet. Sie haben den Dienst sozialer gemacht, wie dieser Beitrag von netzwertig.com erklärt. Ab sofort ist es möglich, Flattr-Konten mit sozialen Medien wie Facebook, Twitter und Instagram zu verbinden. Ich habe das gleich mal ausprobiert – und das bedeutet, dass ich ab sofort Microspenden verteile, wenn ich einen Tweet favorisiere oder mir ein Beitrag auf Facebook gefällt. Ich bin gespannt, ob es Flattr zum Durchbruch verhilft. Es hängt wie immer davon ab, dass sich noch viele weitere Millionen entschließen, mitzumachen.

 

Wie innovativ Journalismus sein muss

Habt Ihr viel Zeit? Dann lest unbedingt den Beitrag von Stefan Plöchinger, Chefredakteur von SZ.de, über den digitalen Medienwandel. Ihr habt keine Zeit? Dann lest ihn trotzdem! Plöchinger hat den Text als Kapitel für das demnächst erscheinende Buch “Journalismus in der digitalen Moderne” verfasst – und entsprechend lang ist er. Aber er lohnt sich. Denn Plöchinger fasst sehr gut zusammen, worum es gerade geht. In kurzen Worten: Der schwierige Weg zu einem neuen Journalismus, bei dem wir Journalisten uns mit unseren eingefahrenen Strukturen oft nur selbst im Wege stehen. Dabei sagt er viele schlaue und wichtige Dinge, wie zum Beispiel: „Es liegen viele Herausforderungen vor uns, und eine der schwierigeren ist, in der digitalen Welt publizistische Werte gegen jene durchzusetzen, die mit Journalismus nicht Rechtes mehr anzufangen wissen.“

 

Wenn aus dem Leser der Geldgeber wird

Über Crowdfunding haben wir bei LousyPennies bereits geschrieben. Noch erfolgreicher als Taiwanreporter Klaus Bardenhagen bei Krautreporter war SZ-Mann Dirk von Gehlen, der für sein Buchprojekt „Eine neue Version ist verfügbar“ mehr als 10.000 Euro bei der Crowd einsammeln konnte. Christian Jakubetz hat nun ein Interview mit ihm geführt, das jeder lesen (und im Video ansehen) sollte, der sich für neue Finanzierungsformen des Journalismus interessiert. Gehlen sagt dabei eine Sache, die sich mit dem deckt, was ich so denke: Aktuell scheint Crowdsourcing eher etwas für einzelne Projekte zu sein, also etwa ein Buch oder eine TV-Dokumentation.

 

A sample assignment for teaching web writing in digital journalism classes

Vor kurzem habe ich auf der Suche nach interessanten Inhalten für ein Web-Projekt den verfügbaren „Content“ (Ein schreckliches Wort für journalistische, mit Herzblut geschriebene Texte!) eines befreundeten Verlages durchgelesen. Mein Fazit: Tolle Texte für Print. Fürs Web kaum zu gebrauchen. Deshalb spricht mir dieser Beitrag des  Journalismus-Dozenten Mu Lin von der Georgian Court University so aus dem Herzen. Er beschreibt darin, wie er seinen Studenten eine einfache Aufgabe stellte: Macht aus den im Text verfügbaren (Blog-)Texten echte Web-Texte. Er beschreibt Schritt für Schritt, was dazu nötig ist – und liefert mir damit die Blaupause, wie man aus vorhandenen Print-Texten (und suboptimalen Online-Texten) das Beste herausholt.